Interview Alexandra Arrieche

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"
Jetzt sei ein Mann! Sei Shostakovich!"

Das Interview mit Alexandra Arrieche

Alexandra Arrieche ist Dirigentin vom Orchester der Night of the Proms. Alexandra übernahm den Taktstock von Robert Groslot bereits 2015 in Belgien und den Niederlanden. In Deutschland dirigiert Sie das Antwerp Philharmonic Orchestra seit dem Konzertjahr 2016.

Im Interview mit Stephan Bodewig gibt sie einen umfassenden Einblick in Ihre Karriere: Der Beginn als Teenager mit dem Taktstock, Ihr Aufstieg als Dirigentin unter Marin Alsop, Ihrem Exkurs bei Kurt Masur und der Einstieg bei der Night of the Proms. Welche Musik und welche Rock / Pop Konzerte bevorzugt Alexandra Arrieche? Erfahrt mehr von der einzigartigen Dirigentin jetzt und hier im Interview.


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Stephan: Deine musikalische Schaffenszeit hast Du mit dem Studium als Pianistin und Sängerin begonnen. Wie kommt man bereits als Teenager an den Taktstock?

Alexandra: Klavier spielen und singen waren meine Instrumente. Die „Werkzeuge“, die ich besaß um mich in der Musik auszudrücken. Ich habe angefangen Klavier zu lernen als ich 11 war, vorher hatte ich nur nach Gehör gespielt.

Als ich 12 war, begann ich eigene `Arrangements´ von Liedern zu spielen, die mir gefielen. Danach begann ich viel zu improvisieren und dann war es nur noch ein kleiner Schritt bis ich mit dem Komponieren begann. Mit 14 schrieb ich eine meiner Improvisationen auf und bemerkte, dass ich komponierte. Daraufhin fragten mich einige meiner Freunde am Konservatorium nach Arrangements und Kompositionen. Es beschränkte sich nun nicht mehr nur auf das Klavier, sondern auch Flöte und Cello…

Mit 16 fing ich damit an für meine Freunde zu dirigieren, denn ich war die einzige, die das Stück kannte. Damals hatte ich noch keinerlei Absicht, Dirigentin zu werden. Wir haben in Brasilien nicht allzu viele Orchestren, und ich wurde auch nie dazu ermutigt, Dirigentin zu werden, das war sehr weit weg für mich. Ich hörte immer „Wenn es schon für einen Mann schwer ist, stell dir nur vor wie es für eine Frau sein muss.

Ich habe einen doppelten Abschluss in Komposition und Dirigieren von der Sao Paulo State University aber ich habe erst in meinem letzten Jahr dort mit meinem Glück mit dem Dirigieren versucht. Zu dem Zeitpunkt dachte ich mir: "Alles oder nichts!" Ich habe all meine Anstrengungen in das Dirigieren gesteckt, nahm Unterricht, ging zu den Proben und lernte mehr über Dirigentinnen.


2011 warst Du die vierte Frau, die die Taki Concordia Fellowship gewann. Ein zweijähriges Programm, das nur Frauen gewidmet ist. Zudem wurdest Du mit dem namhaften Künstlerdiplom des Instituts der Johns Hopkins University geehrt.

Wie war die Arbeit in dieser bedeutsamen Zeit mit Musikdirektorin
Marin Alsop? Sie war 2007 schließlich die erste Frau, die ein großes US-amerikanisches Orchesters (Baltimore Symphony Orchestra) dirigierte. Inwiefern konnte Sie Dir dabei helfen, Dich zu verbessern?

Marin ist ein Vorbild. Sie ist eine Naturgewalt, die alle inspiriert und die Welt um sie herum zum Besseren verändert.

Sie ist nicht nur eine fantastische Dirigentin und phänomenale Musikerin, sie ist auch eine der großzügigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe und hat einen großartigen Sinn für Humor.

Es ist wirklich ein Privileg mit ihr zusammenzuarbeiten und seit 2011 von ihr unterstützt zu werden. Es mag etwas klischeehaft klingen aber es ist die reine Wahrheit, dass
Marin Alsop und die Taki Concordia Fellowship mein Leben verändert haben. Ohne sie würde ich buchstäblich nicht hier sitzen.

Du hast sogar einen Meisterkurs bei Kurt Masur besucht. Gerade für Liebhaber der deutschen Klassik ist dies von Bedeutung. Wo lernt man Kurt Masur kennen und wie war die Zusammenarbeit? Gibt es eine kleine Geschichte von der gemeinsamen Schaffenszeit?

Sicher! Es war sehr kurzweilig. Ich hätte mir gewünscht es wäre länger gewesen. Ich war noch sehr jung und grün hinter den Ohren! Ich wünsche mir, ich wäre damals älter und schon reifer gewesen, haha!

Glaube es mir oder nicht, es war mein erstes Mal in Rio und, was noch wichtiger ist, das erste Mal, dass ich mich an
Shostakovich 5 versuchte. Ich dirigierte den ersten und zweiten Satz und ich fühlte dabei eine riesige Last auf meinen Schultern – so sollte es allerdings auch sein! Es ist ein monumentales Stück und sehr schwer für jeden zu dirigieren, egal wie viel Erfahrung man mitbringt.

Ich war natürlich auch die einzige Frau in dem Kurs und er behandelte mich deswegen nicht anders, was ich sehr schätze. Er war die erste Person, die mir das Konzept von einem neutralen und geschlechtslosen Dirigenten vor Augen führte. Du bist weder Mann noch Frau, du bist Dirigent. Ich werde nie seine Worte vergessen: "Jetzt sei ein Mann! Sei Shostakovich!" Das ist auch ein sehr wichtiges Konzept, die Musik zu repräsentieren. Nicht dich, nicht dein Ego. Auf der Bühne gibt es nur die Musik. Deswegen liebe ich so sehr das, was ich tue. Ein Orchester auf der Bühne ist die beste Metapher für Gleichberechtigung und Liebe. Dort gibt es keine Hautfarbe, keine Geschlechter, keine Sprache, keinen Glauben. Jeder ist da um den anderen zu unterstützen, sich anzuhören und um Musik zu kreieren. Eine der schönsten Sachen der Welt, ohne auch nur ein Wort sagen zu müssen. Ist das nicht fantastisch?


Du bist u.a. musikalische Direktorin und Dirigentin vom Henderson Symphony Orchestra in der Nähe von Las Vegas. Wie kam es ausgerechnet zu diesem Arrangement Mitten in der Wüste? Und gibt es auch Konzertanfragen aus dem 20km entfernten Vegas?

Oh ja, es ist inmitten der Wüste. Also, Sie luden mich zu einem Vorspielen ein. Es war eines der schwierigsten Konzerte, die ich in meinem Leben dirigiert habe und es ging dabei ziemlich gut für mich aus. Das Orchester und der Vorstand hat geschlossen für mich gestimmt. Ich war sehr beeindruckt und gerührt.

Nach und nach lerne ich jetzt die Community kennen, die Musikszene in Vegas ist sehr speziell. Ganz anders als in Europa, Brasilien und, glaube es oder nicht, dem Rest der USA. Ich hatte einige Angebote aber nichts Solides. Alle dort wissen, dass ich mich sehr bei den NOTP engagiere und dass ich mit vollem Herzen bei diesem Projekt dabei bin. Ich erlaube mir nicht allzu viele Ablenkungen, das kann ich gar nicht. Ich hatte schon genug zu tun und würde niemals Qualität für Quantität kompromittieren.

Über die Musik

Welche klassischen Werke hörst Du für Dein Leben gerne?

Aiaiai,… so eine schwierige Frage! Es ist so wie seinen Lieblingsfilm auszuwählen… Ich weiß es nicht.

Dirigenten haben diese vorgefertigte Antwort: "Mein Lieblingsstück ist das nächste Stück, das ich dirigieren werde…"

Ich verstehe die Idee dahinter aber ich weiß nicht, ob ich dem zustimme. Selbst einen Komponisten auszuwählen ist so schwierig. Lassen Sie uns heute einfach sagen Shostakovichs 5. Symphonie, weil ich darüber gesprochen habe und das in mir so viele gute Erinnerungen an mein jüngeres Ich geweckt hat. Besonders der
dritte Satz – er ist zum Sterben schön! Aber schon morgen kann es Schoenberg, Pierrot Lunaire sein.. Wer weiß?

Magst Du denn eher leichte und positive oder lieber melancholische Werke der Klassik, wie z.B. Pavanne von Gabriel Fauré?

Noch eine schwierige Frage. Ich tendiere immer dazu, diese Entscheidungen mit der Popwelt zu vergleichen. In diesem Fall ist es so, als müsste ich mich zwischen“Love of my life“ und „Don’t stop me now“ entscheiden. Ich mag Musik, die gut geschrieben ist. Gut strukturiert. Da macht es keinen Unterschied ob sie positive oder melancholisch ist. Ich denke die Wahl hängt auch immer mit meiner Stimmung zusammen.

Auch wenn es wiederum eine universale Frage darstellt; welches Rock / Pop Konzerte haben Dich nachhaltig beeindruckt?

Hmm… Du hast Dir wirklich schwierige Fragen ausgedacht. Ich nehme an wir sprechen nicht von NOTP Künstlern. In diesem Fall würde ich die ersten und letzten nehmen:

Ich glaube die erste große Produktion die ich live gesehen und die mich beeindruckt hat war Madonna. Zu diesem Zeitpunkt war ich so von ihrer Kraft eingenommen, von ihrer Energie und von der Tatsache, dass sie nicht aufhörte bis sie die ganze Menge von sich überzeugt hatte.

Die letzte, die mich sehr beeindruckte war Adele. Davon abgesehen, dass sie eine großartige Sängerin ist, ist sie auch sehr unterhaltsam und ungekünstelt und man merkt wirklich, dass es ihr nur um die Musik geht.


Night of the Proms

Kommen wir auf die NOTP zu sprechen. Wann hast Du das erste Mal von der Night of the Proms gehört?

Ein Freund von mir, der nichts mit der Musikbranche zu tun hat, erzählte mir, dass er von einer Show in Europa gehört hat, in der klassiche Musik und Popmusik zusammenspielen und dass es mir sicher gefallen würde. Ich liebte die Idee und fragte ihn, ob er mehr darüber herausfinden könnte. Einige Monate später schrieb mir der Manager der Taki Concordia Fellowship eine Email und fragte, ob ich interessiert wäre. Das meinte ich übrigens damit, als ich sagte ohne Marin wäre ich heute nicht hier.

Ich sagte meinem Freund Bescheid und da sind wir nun… das war die Show, von der er mir erzählte!


Wie war danach der Erstkontakt mit den NOTP Organisatoren?

Als NOTP darüber nachdachte, einen neuen Dirigenten anzuheuern, entschieden sie sich dafür, eine Frau einzuladen. Marin dirigierte damals in Belgien. Sie warb immer für die Taki Concordia Fellowship, daher die Verbindung.

Ist dies der erste Besuch für Dich in Deutschland?

Letztes Jahr war das erste Mal, dass ich den deutschen Teil der Tour mitmachte. Abgesehen davon war ich vorher schon in Deutschland, um vorzuspielen oder Freunde zu besuchen.

Wenn Du mit der NOTP in Deutschland auf Tour bist. Gibt es besondere Ziele kulinarisch oder auch kulturell?

Kulinarisch: Bier?! Ich bin eigentlich kein Bier-Typ aber ich muss zugeben, speziell wenn ich in Deutschland, Belgien und der Tschechischen Republik bin, kann ich zu einer Bier-Person werden. Menschen aus Lateinamerika lieben außerdem essen. Ich liebe es, ländertypisches Essen zu probieren. In meinen Augen ist das die beste Art, die Leute und die Kultur wirklich zu verstehen.

Kulturell gesprochen müsste ich mein Jahr sehr gut planen. Ich weiß nicht, ob wir so viel Zeit zwischen den Shows haben. Aber ich würde sehr gerne Museen besuchen, Konzerthallen und natürlich die Märkte!

Welches klassische Werk würdest Du gerne bei den Proms ausprobieren? Gibt es ein seltenes Werk, ein brasilianisches Masterpiece oder auch ein liebgewonnenes klassisches Werk für die NOTP?

Es gibt so viel großartige Musik auf der Welt. Ein oder zwei Stücke auszuwählen wäre wie eine kleine Perle inmitten wertvoller Edelsteine auszusuchen. Ich fühle mich oft so als würde ich Brahms und Stravinsky betrügen, wenn ich mal Tchaikovsky für ein Konzert auswähle, oder Mason Bates, wenn ich Debussy spiele… Es ist schwierg!

Gibt es denn eine Filmmusik, die Dich bei den Proms zur Aufführung reizen würden?

Oh, meine Schwachstelle! Hatte ich erwähnt, dass ich mich in meiner Lehrzeit auf Soundtrack spezialisiert habe? Ich liebe Filmmusik und John Williams und Morricone sind meine Idole.

Ist es schwieriger ein Orchester zu leiten bei moderner Pop /Housemusik unter Einsatz eines Samplers (Regi's Party House Mix) oder eher beim taktgenauen dirigieren eines klassischen Werkes?

Beide Dinge sind auf ihre eigene Art herausfordernd. Ich behandle beide mit demselben Respekt und derselben Hingabe und es ist wirklich schwer zu vergleichen. Ich würde sagen für mich ist es schwierig ein Orchester in einem nicht-akustischen Umfeld zu dirigieren.

Wir müssen sehr schnell schalten können. Dirigieren basiert auf Aktion und Reaktion. Es gibt immer eine winzige Verzögerung. Das verändert sich je nach Orchester und der Akustik des Saals. Dirigenten verlassen sich dabei sehr auf das eigene Gehör! Wenn wir in einem offenen Saal spielen und wir unsere `
In Ears´ angeschlossen haben, erhalten wir sofort einen Ton. Ich brauche immer etwas Zeit um mich dem anzupassen.

Pjotr Iljitsch Tschaikowski

Beim Konzert letzes Jahr wurde vor dem Werk `Capricio Italien´ die Geschichte vom homosexuelle Leben von Tschaikowsky erzählt. Damals wie heute, gerade in seinem Heimatland Russland, wird die Homosexualität verachtet. Tschaikowsky selber hat gelitten und damit gelebt. Was wusste man bereits als Kenner der Musik vor der Veröffentlichung der entdeckten Briefe? Oder warst Du auch vom Outing überrascht?

Ich war überhaupt nicht überrascht. Um die vierte, fünfte und speziell die sechste Symphonie zu verstehen, muss man seinen Kampf verstehen. Die sechste Symphonie war seine letze. Es klingt so gequält, so tiefgründig. Zerstörerisch. Man muss die Geschichte dahinter nicht kennen um den Mangel an Hoffnung und Freude zu spüren aber wenn man den Hintergrund kennt, versteht man die Details. Warum ein Walzer in der 5.? Warum so eine ungewöhnliche Komposition? Warum ist der dritte Satz nicht der letzte? Warum musste er es so abschließen?

Dieser Mann wurde von der Gesellschaft so lange gequält, bis er Suizid begang. Ich dachte es sei wichtig, dass herauszustellen. Wir leben im 21. Jahrhundert und wir kämpfen immer noch für Gleichberechtigung. Menschen haben immer noch Angst vor dem, was anders ist und sorgen dafür, dass sich andere nicht zugehörig fühlen. Mit dieser Mentalität kann ich nicht umgehen. Es verletzt mich. Wir müssen einen Weg finden, unsere Unterschiede zu akzeptieren und wir müssen einander mehr helfen, lieben und respektieren… „All we need is love“, nicht wahr?


Welches Rock / Pop Werk hat Dir im Promsjahr 2016 besonders gut gefallen?

All die Musik, die wir spielten war so gut künstlerisch dargestellt. Sie alle haben einen speziellen Platz in meinem Herzen. Ich kann nur noch einmal sagen, ich hatte so viel Glück mit Dominique und Geert, die die Arrangements geschrieben haben.

Also… Wenn ich mich für ein Stück aus Holland und Belgien entscheiden müsste, würde ich auf jeden Fall `
Life on Mars´ nehmen. Als ich die Partitur öffnete, verliebt ich mich in die Art und Weise, wie Domi ein Sternbild mithilfe der Instrumente schaffte. Mit dieser Partitur zu arbeiten war wie im Weltall zu reisen und all die Farben des Universums wurden vom Orchester gespielt. Es war brilliant! Man konnte die Sterne hören, es war wunderschön. `Summertime´ war ebenfalls bemerkenswert.

Aus dem Promgramm in Deutschland 2016 würde ich zwei Werke von Simple Minds wählen. Geert´s Ansatz war außergewöhnlich. Als ich auch hier die Partitur geöffnet habe und die ersten Noten aus dem Werk von Gustav Holst `
Die Planeten´ zu Beginn von `Sanctify´gesehen habe, genial!!! Er ist ein kreatives Genie! Zudem hat mich das Zusammenspiel von Time For Three beim Song `Belfast Child´ sehr berührt.

Das gute Ende

Wo wirst Du nach dem letzen Konzert der NOTP die Weihnachtszeit genießen?

Ich weiß es noch nicht sicher! Ich werde auf jeden Fall zurück nach Brasilien gehen um meine Familie zu sehen. Das ist die einzige Zeit, die ich mit ihr verbringen kann und das darf ich nicht verpassen.

Welche bedeutenden Projekte stehen 2017 / 2018 bei Dir an?

Eine Menge wird passieren! Von den Proms abgesehen, beende ich die erste Saison in Vegas und stelle das Programm für 2018 auf, welches von Geschichtenerzählern in der Musik inspiriert sein wird. Das Orchester investiert zurzeit auch in ein Förderprogramm, das dem Beethoven ProjeKt für Personen mit Hörbehinderung zugutekommen wird. Ansonsten habe ich Pläne, mein Dirigentenstudio in Brasilien wieder aufleben zu lassen. Das musste ich letztes Jahr verschieben, aber dieses Jahr sind wir wieder zurück!

Vielen Dank Alexandra!

© NOTP



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